Im Jahr 1889 malt Vincent van Gogh sein berühmtes Bild Sternennacht (1) . Seit gut zwei Monaten befindet er sich in der Heilanstalt Saint-Paul-de-Mousole in Saint-Rémy-de-Provence. Bei Nacht schaut er aus dem Fenster seines kleinen Zimmers hin zu den Bergen und zu den geliebten Sternen. Wie oft hat er sie schon gemalt!

Damals in Arles an der Rhône unter freiem Himmel oder spät abends draußen vor dem Café am Marktplatz! Wer lang genug in die klare Nacht schaut, entdeckt ein Zelt von funkelnden Diamanten und Edelsteinen! (2)

Geliebte Sterne

Doch jetzt – das nächtliche Himmelszelt  ist zum Wirbelsturm geworden. Sonne, Mond und Sterne erfüllen die dunkle Nacht mit nie gekannter, fast greller Helligkeit. Sind es alte Erinnerungen – ja unaufhörlich blitzende Gedanken in seinem Kopf,  dass allein Farbe und Pinsel sie bannen können? Über die “Sternennacht” ist viel spekuliert worden, gibt es viele Interpretationen (3) , berühmt Julius Meier-Graefe,  Antonin Artaud, Meyer Schapiro … Schapiro  weiß aus den vielen Briefen an den geliebten Bruder Theo (4) um van Goghs religiöse Stimmung, die damals das Bild ausgelöst hat. Möglicherweise, so Schapiro,  hat bei van Gogh sogar eine unbewusste Erinnerung an ein apokalyptisches Thema mitgeschwungen (Offenbarung 12,1 ff).

 

 

Wie dem auch sei, und was auch wir selbst in dem Bild sehen und mitschwingen lassen – van Gogh hat seine Sterne geliebt! Wo und wie immer er sie malt und zeichnet! Auch sein verworfenes Bild vom Garten Gethsemane zeigt Jesus unter einem leuchtenden Sternenzelt! Vincent van Gogh, ältestes von fünf Kindern einer Pastorenfamilie, bleibt auch als Maler ein zutiefst religiöser Mensch. Die Sterne symbolisieren ihm Gottes – unerreichbare – Unendlichkeit, und doch berührt ihr fernes Licht zugleich unser Leben, uns. Die Sterne sind Sehnsucht und Trost zugleich, ja in der dunkelsten Nacht leuchten und strahlen sie am hellsten! Van Gogh hat das Geheimnis Gottes nicht mit der Natur verwechselt. Erst im künstlerischen Ausdruck von Farbe und Form verwandeln sich ihm Gefühl und sinnliche Wahrnehmung in religiöse Erfahrung. Erst im Bild sehen wir die Sterne, was sie ihm sind!

Unterm Sternenzelt

Wie oft und wie lang schauen Menschen zum Himmel, nicht zuletzt in diesen Tagen! Leid und Verzweiflung sind groß. Der Krieg in der Ukraine will nicht enden.

Eine Freundin macht mich auf eine Zeile von Mascha Kaléko aufmerksam: Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.

Ob der Blick zu den Sternen reicht? Vielleicht verwandelt er, verwandelt uns, unser Gebet. Aus den Tränen wird Trost, aus der Verzweiflung wird Hoffnung, aus der Wut  wieder Mut …

Vincent van Gogh hinterlässt uns mit seiner aufgewühlten, wirbelnden Sternennacht ein Bild voll von Energie und Bewegung. Bei aller Verzweiflung und Angst, gegen die es sich stemmt – es ist ein Bild der Hoffnung und des Lebens!

(1) Saint-Rémy Juni 1889, Öl auf Leinwand, 73,7 × 92,1 cm, Museum of Modern Art, New York

(2) Steven Naifeh/Gregory White Smith: Van Gogh.Sein Leben, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 982

(3) Eine besondere Hommage an Vincent van Gogh stellt der Song Vincent (Starry, Starry Night) des Sängers Don McLean dar.

(4) Brief an den Bruder Theo (Sept. 1888): Das ändert nichts daran,  dass ich ein schreckliches Bedürfnis nach – so soll ich das Wort sagen – Religion habe; darum gehe ich nachts hinaus ins Freie, und male die Sterne.  [543]

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