Im Frühjahr 2023 jährte sich der Todestag der Theologin Dorothee Sölle zum 20. Mal. Ihrer wurde in vielen Veranstaltungen, Artikeln, Sendungen, mit Seminartagen und in Form anderer Angebote gedacht. Immer wieder erstaunte, wie aktuell ihre Worte noch heute sind.

Esst die Psalmen

Einen Grund dürfte dies in ihrem Verhältnis zur Bibel und ihrem Umgang mit der Bibel haben. Die Bibel und ihre Worte waren für Sölle ein tragender Grund und Dialogpartner. Sie lernte, die Bibel mit Genauigkeit und Begeisterung zu lesen. Sie bezeichnete die Bibel als ihr tägliches Brot. Im Blick auf die Psalmen hat sie einmal formuliert:

„Die Psalmen sind für mich eins der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht. Sie sind für mich Brot. Ohne sie tritt die spirituelle Magersucht ein, die sehr verbreitet unter uns ist und oft zu einer tödlichen Verarmung des Geistes und des Herzens führt. … Und so möchte ich als erstes sagen: Esst die Psalmen. Jeden Tag einen. Vor dem Frühstück oder vor dem Schlafengehen, egal.“ (Erinnert euch an den Regenbogen, 182f)

Kurz vor ihrem Tod sagte Sölle in einem Radiointerview, dass für sie die biblische Tradition das größte Geschenk des jüdischen Volkes an die Menschheit sei. In diese Tradition stelle sie sich gerne, weil sie ihr eine Sprache schenke, mit der sie reden kann, und das keineswegs nur in Bibelarbeiten und Predigten.

Geprägt durch ihren ursprünglich liberal bildungsbürgerlichen Hintergrund waren ihr viele biblische Worte präsent, auch durch Kunst und Literatur und die Texte musikalischer Stücke. Diese biblischen Worte konnte Sölle in ihre Gedankengänge – manchmal fast wie vom Himmel fallend – einbauen. Manchem mag das teilweise als etwas zu weit her gegriffen erscheinen oder auch moralisierend. Dieses Vorgehen spiegelt aber genau Dorothee Sölle wider und das, was sie geprägt hat. Es gibt wenige Personen, bei denen wie bei ihr Leben und Werk – in aller Widersprüchlichkeit – so eng miteinander verbunden sind.

Feministische Befreiungstheologie

Sölles Zugang zur Bibel veränderte sich im Laufe ihres Lebens. Einen großen Einfluss hatte für sie zunächst die Begegnung mit mittel- und lateinamerikanischen Basisgemeinden sowie der Befreiungstheologie. Anknüpfend an das hermeneutische Modell der Befreiungstheologie sind für Sölle bei der Auslegung von Bibeltexten vier Größen im Spiel: der biblische Text, der biblische Kontext, der eigene Kontext und das biblische Wort für uns (vgl. Hannas Aufbruch, 36f). Sie geht damit über die historisch-kritische und sozialgeschichtliche Auslegung hinaus. Beeinflusst hat sie dabei der Austausch mit der Exegetin und Neutestamentlerin Luise Schottroff.

Bibelauslegung hat zwei Kontexten Rechnung zu tragen: dem eigenen Kontext und dem der Menschen, die in der Bibel zu Wort kommen. Für beide Kontexte ist der Glaube nicht zu trennen von der Alltagswirklichkeit geprägt durch Wirtschaft, Politik und Militär. In diese Situation traf und trifft Gottes Wort. So ist es wichtig, die politischen und sozialen Verhältnisse konkret beim Namen zu nennen, wo vom Glauben gesprochen wird. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Sölle immer mehr die jüdischen Wurzeln biblischer Texte betont; auch die feministische Perspektive gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Schließlich spricht Sölle sogar von einer feministischen Befreiungstheologie. Entscheidend sei die Perspektive der Armen, der Ausgegrenzten, der Frauen usw. Letztlich gehe es um Gerechtigkeit im Sinne von Befreiung als Schlüssel für die Interpretation biblischer Texte.

Zeitung und Bibel

Ihren Umgang mit biblischen Texten hat Sölle mehrfach theoretisch reflektiert. Im Laufe ihres Lebens habe sie sich immer tiefgehender den biblischen Texten zugewandt. Sie möchte die Bibel weiterschreiben, die ein Buch ist, das selbst 2000 Jahre Kirchengeschichte und Kirche nicht zerstören konnten. So zieht Sölle die Bibeltexte in den Alltag: „Einen Bibeltext liest man am besten mit einer Brille, die aus den Nachrichten der Tageszeitungen gemacht ist.“ (Sympathie, 305)

Die Bibel habe sie gelehrt von Gott zu reden, die Zeitung habe sie mit der Welt konfrontiert. Ein abstraktes Lehrsystem war ihr fern. Alles, was sie als Theologin gedacht und geschrieben hat, ist aus lebendigen Beziehungen und Lebensvollzügen heraus entstanden. Es kann nicht getrennt werden von ihrem Leben und dem Leid, das sie förmlich mit anderen mitleidet.

Das Zurückgreifen auf einzelne Verse und Texte aus der Bibel dient ihr dabei zur biblischen Fundierung ihrer eigenen Aussagen und ist zugleich Impuls für weitere Überlegungen. Teilweise hat sie sogar mit Bibeltexten gerungen. Man spürt dies u.a. bei ihrer Auslegung von Genesis 32, dem Kampf Jakobs am Jabbok (Es muß doch mehr als alles geben, 64ff). Biblische und zeitgenössische Wahrnehmung werden miteinander verschränkt, die Bibeltexte werden in die gegenwärtige Welt und ihr Leben übersetzt. Oft sind Sölles Texte extrem zeitbezogen geschrieben – eine Stärke und Schwäche zugleich. Sie positioniert sich schnell, lässt sich aber korrigieren und ist offen, ihren Horizont zu erweitern.

Durch die tiefgehende Beschäftigung mit der Bibel sind für Sölle das Vertrauen und die Hoffnung auf Gott als Gott der Gerechtigkeit gewachsen (vgl. Gott denken, 103). Die dadurch entstandene Kraft spiegelt sich in ihren Texten wider.

Für Sölle ist ein Leben ohne die Bibel und die in ihr aufgeschriebenen Worte unvorstellbar. Sie ist die Quelle ihres theologischen Denkens, ihres theopoetischen Schreibens und politischen Handelns.

Literatur (Auswahl)

Dorothee Sölle, Erinnert euch an den Regenbogen. Texte, die den Himmel auf Erden suchen, hrg. von Bettina Hertel und Birte Petersen, 1999

Dorothee Sölle, Es muß doch mehr als alles geben. Nachdenken über Gott, 1992

Dorothee Sölle, Gott denken, 1990

Dorothee Sölle, Sympathie, Stuttgart 1978

Dorothee Sölle / Luise Schottroff, Die Erde gehört Gott, 1985

Luise Schottroff / Dorothee Sölle, Hannas Aufbruch. Aus der Arbeit feministischer Befreiungstheologie: Bibelarbeiten, Meditationen, Gebete,1990

Sendungen:

SRF I; Ein Gott der uns braucht, 27. April 2013

Share Button