Der biblische Fundamentalismus ist eine intellektuelle Provokation. Wer mit der Bibel argumentiert, um Moral- und Glaubensvorstellungen anderen Menschen nahezubringen, muss aufpassen, die Bibel nicht zu missbrauchen. Die Bibel ist das beeindruckende Zeugnis einer langen jüdisch-christlichen Glaubensüberlieferung. Ohne sie wäre die Welt nicht, wie sie ist.

Doch die Bibel bleibt im Streit um Moral und Glaube letztlich ein schlechtes Argument. Zumindest die Argumentation, dass etwas in der Bibel steht, ist niemals ausreichend!  Dieses Verständnis öffnet allein christlichen Fundamentalisten die Tür. Sie begreifen jedes einzelne Wort der Bibel wortwörtlich als Wort Gottes. Doch eine solche Zugangsweise zur Bibel führt den Geist, die Freiheit und die Vernunft in eine Sackgasse! Sie vertieft den Vorwurf, dass der Glaube den Verstand nicht nur schwächt, sondern mithin ganz ausschaltet. Bedauerlicherweise begleitet der christliche Fundamentalismus die Geschichte des christlichen Glaubens bis heute, ja feiert in unserer Zeit geradezu erschreckende Urzustände.¹ Da er seine Wurzeln selbst nicht zu reflektieren weiß, macht der christliche Fundamentalismus heute selbst vor rechtspopulistischem Gedankengut nicht Halt.²

Mit Sinn und Verstand

Wer mit der Bibel argumentiert, muss sie mit Sinn und Verstand auslegen. Dabei erweisen sich die Glaubenserzählungen bei genauerer Betrachtung viel lebendiger, widersprüchlicher und provokanter als sie nach unseren Vorstellungen oft sind. Viele Geschichten meinen wir ja zu kennen, ohne sie wirklich mit Neugier und Verstand gelesen zu haben. Im Mund der christlichen Fundamentalisten klingen die Worte der Bibel daher häufig mehr formelhaft und gesetzlich als zum Glauben einladend.

Neben der oft verkannten Weite und Vielfältigkeit der biblischen Glaubenserzählungen sind die ethischen Ratschläge der Bibel recht spröde und überschaubar. Der Mensch weiß, was gut ist! (Micha 6,8). Wesentlich sind neben den klassischen Zehn (Freiheits-) Weisungen (Exodus 20,1,-17) die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe! (5. Mose 6,5a; Matthäus 22,37). Viele Erzählungen – selbst die berühmte Überlieferung vom Weltgericht und den Werken der Barmherzigkeit (Matthäus 25,31-46) – sind nichts anderes als eindrückliche Veranschaulichungen dieser jüdisch-christlichen Lebens- und Glaubensauffassung.  Dass Gottes Liebe bevorzugt den Armen, Unterdrückten und Schwachen gilt, bezeugt die Bibel auf jeder Seite. Dies muss nicht weiter betont werde.

Wie fundamental ist nun aber die Bibel?

Das wirklich Fundamentale an der Bibel ist die von Menschen bezeugte Liebe Gottes, die die Brüchigkeit des Lebens erträgt und die niemals nachlassen wird, für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden einzutreten. Die Bibel ist und bleibt ein Buch. Ihre Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, die einhergeht mit ihrem geschichtlichen Werdeprozess, ist nicht zu bedauern. Sie schärft vielmehr unseren Verstand und lässt unseren Glauben wach bleiben. Die rabbinische Tradition schreibt den Widersprüchlichkeiten der biblischen Überlieferung eine geradezu göttliche Weisheit zu!

Wer sich auf die Bibel beruft, muss sie lesen und nicht nur zitieren! Er muss in einen intellektuellen Diskurs eintreten mit anderen Menschen.³  Diese Anstrengung, die Wort und Geist fordert (Gal 5,25), ist nicht nur manchem Verschwörungstheoretiker, christlichem Querdenker und Rechtspopulisten zu viel. Sie setzt voraus, dass wir frei und hörend aufeinander zugehen. Nach christlichem Glaubensverständnis ist das Fundament des Glaubens (1. Korinther 3,11) gelegt. Es muss nicht neu behauptet, gesichert oder verteidigt werden! Aus diesem befreienden, „fundamentalen“ Wissen heraus gilt es, die durch die ganze Bibel hindurch bezeugte Liebe Gottes in der Welt zu leben!

¹ Siehe: Das evangelikale Netzwerk der AfD, in: www.tagesschau.de (21.8.2021) | ² Liana Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, 2018 | ³ Zum Begriff und bibeldidaktischen Umgang mit christlichem Fundamentalismus: www.bibelwissenschaft.de

 

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