Was für ein wunderbares Juwel der Holzschnitzkunst![1] Nehmen Sie sich ein wenig Zeit, das Bild für sich zu entdecken!  –

Jesus sitzt aufrecht auf einer Bank oder einer anderen nicht weiter erkennbaren einfachen Sitzgelegenheit. Sein Kopf, mit Bart und langem Haupthaar, ist leicht zur Seite geneigt. In seiner rechten Hand ist die Hand der Figur neben ihm gelegt.  Auf deren äußerer Schulter ruht, zunächst kaum wahrgenommen, die zweite Hand Jesu, ja eigentlich sind es nur ein paar Finger, die behutsam und leicht auf der Schulter dieser kleineren Figur liegen. Die Augen dieser jungen, knabenhaften Figur sind geschlossen. Der scharf abgeknickte Kopf mit den lockigen Haaren lehnt sanft an der Schulter und Brust Jesu. Der äußere Arm liegt dabei konzentriert auf dem eigenen Oberschenkel.

Band der Liebe

Jesus und Johannes, um 1310

Alle Bewegungen dieser Skulptur, jeder Faltenwurf und jede Körperhaltung, unterstreichen die Nähe und Innigkeit der Beziehung.

Freilich, diese ereignet sich nicht auf „Augenhöhe“.  Und doch wird sie unübersehbar sichtbar: im breiten Tuchgewand, das beide wie ein Band der Liebe und des Herzens miteinander verbindet, einer Liebe, ja, in der alle Unterschiedlichkeit belanglos wird, vergessen ist. Wie eine weiche, lebendige Welle scheint sich das Tuch von links nach rechts über die Beine beider Figuren zu legen.

Lieblingsjünger

Jesus und der sogenannte Lieblingsjünger Johannes – diese Figurengruppe – auch Johannesminne genannt – begründet seit dem Mittelalter eine berühmte christliche Bildtradition der Liebe, insbesondere in der christlichen Mystik.[2]

Ernst Barlach: Lesende Mönche, Zeichnung | Güstrow Nachlaß

Dabei ist die kleine Figurengruppe gleichsam aus dem szenischen Zusammenhang des Abendmahlbildes, das der biblische Text in Johannes 13,21ff beschreibt, herausgelöst und isoliert worden. In diesem Textabschnitt heißt es an einer Stelle:

Und Jesus sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? … (Joh 13, 22b-25)

Wer wird die Liebe verraten? Jede und jeder kennt Judas.

Herr, wer ist’s?

In Wahrheit werden Jesus alle verraten, sogar Johannes wird am Ende weglaufen und fliehen! Verrat und Liebe – damit beginnt die Passionszeit!

Ob wir die Liebe zurückgewinnen werden?

[1] Christus und Johannes, Inzigkofen bei Sigmaringen, Bodenseegebiet, um 1310, Eichenholz, Staatliche Museen Berlin | https://de.wikipedia.org/wiki/Christus-Johannes-Gruppe

[2] Eine eigene Resonanz fand die Johannesminne u.a. im Werk von Ernst Barlach. Die Skulpturen „Lesende Mönche“(1932) und die „Kussgruppe I“(1921) sowie deren zahlreiche Vorarbeiten und Zeichnungen lassen unschwer erkennen, wie Ernst Barlach die alte Ikonographie aufgreift und eigenständig weiterentwickelt. Vgl. Sebastian Giesen (Hg.): Der Zeichner Ernst Barlach, Ernst Barlach Haus, Hamburg 2002. Auch Leopold Reidemeister: BARLACHS LESENDE MÖNCHE UND DIE SIGMARINGER CHRISTUS-JOHANNES-GRUPPE |  https://journals.ub.uni-heidelberg.de

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