Es ist immer gut, in der Bibel zu lesen, diesem reichhaltigen, vielfältigen Buch, dieser Bibliothek, deren Schriften von der Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen. Doch irgendwann stellt sich die Frage, wie all diese Erzählungen zu verstehen sind und wie sie als Wort Gottes an uns begriffen werden können. Der Theologe und Philosoph Friedrich Schleichermacher (1768-1834), der im Pfarrhaus eines streng gläubigen Vaters aufgewachsen ist, hat als junger Student und angehender Theologe versucht, darauf eine eigene Antwort zu finden.

Zwei Sätze, die sich zu widersprechen scheinen und doch für ihn zusammen gehören, machen dies deutlich. In seiner Aufsehen erregenden Schrift „Über die Religion“ (1799) sagt er zunächst sehr provokant: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte“ (242) [1] . Zum einen wehrt er sich damit gegen jede Vorstellung davon, alles, was in der Bibel steht, unhinterfragt einfach übernehmen zu müssen. Schleiermacher schreibt vielmehr jedem Einzelnen einen ganz unmittelbaren Zugang zur Religion zu, der anderen mündlich oder eben auch schriftlich mitgeteilt werden kann. In diesem Sinne versteht er beispielsweise auch die Schriften des Neuen Testaments zunächst ganz von ihren Autoren her. Gleichwohl geht er davon aus, dass dabei zwar individuell unterschiedliche, aber doch nicht vollkommen gegensätzliche Stimmen zur Geltung kommen. Alles entwickelt sich doch zu einem Ganzen und kann somit beanspruchen, zur gültigen Norm christlicher Wahrheit geworden zu sein. Jede einzelne Schrift ist nur „ein ergänzender Theil“ (324)  der anderen. Auf diese Weise zeigt sich in der Bibel die Dynamik des heiligen Geistes. Dessen Wirksamkeit lässt sich in der Bibel erkennen, „soviel davon in den heiligen Schriften enthalten war“ (323). Man muss in der Bibel deshalb immer auch unterscheiden zwischen zeitbedingten Äußerungen und dem unmittelbaren Wirken des Geistes Gottes.

Für Schleiermacher ist gerade das Neue Testament das Anfangsdokument des Christentums. Der „unbeschränkten Freiheit“ (323) des heiligen Geistes sind damit aber keine Grenzen gesetzt. Er kann sich immer wieder in neuen Äußerungen religiös begabter Menschen zeigen.

Nicht zuletzt spricht daraus sein Selbstverständnis als ein Redner und angesehener Prediger, der vielen Menschen im damaligen Berlin die bleibende Bedeutung der Jesusgeschichten und Briefabschnitte nahe gebracht hat.

[1] Die Seitenzahlen beziehen sich auf: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1.Aufl. 1799 in der Kritischen Gesamtausgabe. Berlin – New York 1980ff, KGA 1/ 2, 185-326.

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