Im Dezember drücke ich oft mit leichtem Zögern auf den Lichtschalter in meinem Büro. Durch die Dunkelheit draußen funkelt alle Jahre wieder Glitzerndes herüber. Grund dafür sind die Lichterbögen in einem Reihenhaus schräg gegenüber und ein fußballgroßer Leuchtstern, der in einem Apfelbaum hängt. Doch funkelt es nicht überall in der Vorweihnachtszeit. Die Geschmäcker sind eben verschieden.
Was Weihnachten angeht, herrscht unter denen, die mit christlichem Ritual feiern, weitgehende Einigkeit. Die Worte der Geburtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium sind das weihnachtliche „Sesam-öffne-dich!“: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde…“
In diesem Jahr wird an Weihnachten vieles anders sein, wir müssen unsere Kontakte beschränken und körperlich weiterhin Abstand halten. Dabei hilft vielleicht der Hinweis: „The first Chrismas was pretty simpel. It’s okay when yours is too.“ Vieles wird anders sein, aber mitten im Ungewohnten wird auch in diesem Jahr die Weihnachtsgeschichte erzählt werden.
Eine große Überraschung mit Blick auf die bekannten Verse erlebte ich als 15jährige bei einer Fortbildung für den Kindergottesdienst. Dort hörten wir von einem der Verantwortlichen: Die Reise der Eltern nach Bethlehem habe nicht stattgefunden. Die Story sei die Idee des Evangelisten Lukas gewesen. Wir Jugendliche waren enttäuscht, fühlten uns irgendwie betrogen. Warum sollten wir ein Krippenspiel anleiten, wenn die Weihnachtsgeschichte nur eine Legende ist, also keinen historischen Bezug hat?
Nach der unsanften Konfrontation mit der historisch-kritischen Lesart biblischer Texte hörte ich bei Weihnachtspredigten genauer hin. Auch heute gefallen mir Wendungen wie „Kind in der Krippe“ oder „mit den Hirten“ weder in der Predigt noch im Gebet. Bei der vermeintlichen „Geburt im Stall“ schweife ich ab. „Lasst uns gehen nach Bethlehem!“ Was spricht denn gegen Nazareth, frage ich mich. (Nebenbei: Für Strohhalme, die daran erinnern, dass Gott Mensch wurde, habe ich keinen Bedarf.)
Auch in der Postpostmoderne sind Krippenspiele in der Weihnachtszeit der Hit. Hierzu werden die beiden neutestamentlichen Vorgeschichten von Matthäus und Lukas kräftig durchgerührt und um ein paar Zutaten ergänzt: Josef und Maria sind plötzlich arme Leute, denen die Obdachlosigkeit droht. Biblisch nicht belegte Wirt:innen schlagen kräftig mit den Türen. Hirt:innen und Sternsuchende treffen sich im Nirgendwo. Ochs‘ und Esel zieht es aus dem Buch des Propheten Jesaja nach Bethlehem, in einen Stall, von dem nie die Rede war. Seit ein paar Jahren werden die Chiffren Not und Flucht untergemischt, als Beigabe zu tagesaktuellen Themen. (Apropos: Lukas hatte sehr wahrscheinlich einen tönernen Futtertrog vor Augen. Holz war rar.)
Bin ich kleinlich, eine Spaßverderberin und schütte das Kind mit dem Bade aus? Gebe ich zu wenig aufs fantasievolle Spiel und missbillige die übliche Inkulturation? Unterschätze ich Aktualisierungen, die unsere Zeit mit dem Text ins Gespräch bringen? Vielleicht.
Dieses besondere Jahr bietet Chancen: Man braucht kein Bühnenbild, um bei der Weihnachtsgeschichte den Fokus auf den Meister und sein Werk zu legen. Denn offensichtlich trifft Lukas mit „Euch ist heute der Heiland geboren“, mit „und Friede auf Erden“ ins Schwarze. Menschen quer durch die Jahrtausende konnten und können an dieser Botschaft andocken. Ohne langen Anlauf ließe sich weitererzählen. Von Inspirationen, die von der Menschwerdung Gottes ausgehen. Kann sein, dass manch eine:r mit veränderter Haltung und mit Glitzer weitergeht. Weihnachten mal anders. Auch und gerade für die, die leicht krippenallergisch sind. Wie wäre das?
P.S. Nach der besagten Fortbildung fand ich neben einem Brief ein Kinderbuch in meiner Post: Nele geht nach Bethlehem von Rudolf Otto Wiemer. Die Geschichte erzählt von einem Mädchen, das seine weihnachtsgestresste Mutter fragt, wo der Geburtsort von Jesus denn liege. „Quer über die Straße,“ bekommt es zu hören. Kurzentschlossen macht sich Nele auf den Weg. Sie besucht Menschen, die im Dunkeln sitzen, ähnlich wie der, dessen Ankunft Weihnachten erinnert wird. Auch davon könnte man – so oder anders – erzählen.
Die Autorin leitet seit 2016 Online-Angebote rund um Bibel und Themen des christlichen Glaubens in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Zuvor war sie viele Jahre als Pastorin in Gemeinde und Schule tätig. Mit ihrer Familie lebt sie seit 2001 in Hildesheim.
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