Ein und derselbe biblische Text kann sehr unterschiedlich wirken, je nachdem, wo und wie jemand ihn in Szene setzt, inszeniert. Der Kontext und die Art der Präsentation haben entscheidenden Einfluss auf Aussage, Stoßrichtung, Wirkung.

Ein Beispiel: Die Erzählung von der Seesturmstillung (Mk 4,35–41; vgl. Mt 8,23–27; Lk 8,22–25) ist mir an zwei unterschiedlichen Orten begegnet – und hat unterschiedliche Eindrücke bei mir hinterlassen.

Fassade der Schiffergesellschaft in Lübeck

Fassade der Schiffergesellschaft in Lübeck

Begegnung Nr. 1:

im Sommerurlaub beim Sightseeing in Lübeck. Dort gibt es ein Haus, das die Schiffergesellschaft sowie ein Restaurant beherbergt. Und hier prangt eine klare Anspielung auf die Seesturmstillung zentral an der Fassade.

Die Inschrift lautet: „Du bist der Mann, Herr Jesu Christ, dem Wind und Meer gehorsam ist. Drum halt in Gnaden deine Hand auch über unsern Schifferstand. Für Sturm, für Räuber, für Gefahr, Herr unser Seefahrt stets bewahr.“

Hier wird Jesus als potenzieller Schutzpatron der Schiffer und Seeleute angerufen. Was ihn dafür qualifiziert: seine Vollmacht über „Wind“ und „Meer“ (Mk 4,39; vgl. V. 41). Damit wird ein Aspekt der biblischen Erzählung prominent in den Mittelpunkt gerückt. Ein Aspekt, der für alle, die zur See fahren, von hohem existenziellen Interesse ist. Kein Wunder also, dass die Fassadengestalter der Schiffergesellschaft gerade diese Erzählung und darin noch einmal diesen Vers als biblischen Referenzpunkt ausgewählt haben. Da stört es dann auch nicht weiter, dass die Jünger im Boot auf dem See Gennesaret keine Gefahr durch (See-)Räuber zu fürchten hatten.

Schild im Hildesheimer Mariendom

Schild im Hildesheimer Mariendom

Die zweite Begegnung:

Ab und an führt mich mein Weg auch in den schönen Hildesheimer Mariendom. Am Eingang begrüßt ein kleines Schild die Besucherin/den Besucher in diesem Gotteshaus. Und dort findet sich, sehr zu meiner anfänglichen Überraschung, die Sturmstillung abgedruckt (beim einen Eingang; gegenüber ist ein Text aus 1 Kön 19 zu finden).

Was hat diese Erzählung im Hildesheimer Dom zu suchen? Spannenderweise ist genau der Vers abgedruckt (zusätzlich noch der Schluss der Erzählung), auf den auch die Schiffergesellschaft anspielt. Eine Passage daraus wird klar herausgehoben – durch Schriftgröße, Schriftfarbe, Fettdruck: „Schweig, sei still!“

Zwei Verständnismöglichkeiten kommen mir in den Sinn, wobei ich beide auch in eine fruchtbare Symbiose miteinander bringen kann.

Möglichkeit Nr. 1: Der Text ist an mich persönlich adressiert (auch im Begleittext in der Mitte der Tafel werde ich geduzt). In der Folge spricht der mit Vollmacht gebietende Jesus plötzlich nicht mehr zu Wind und See, sondern direkt zu mir: „Schweig, sei still!“ Die Wirkung auf mich: „Psssst! Das ist eine Kirche!“

Möglichkeit Nr. 2: Der Text ist an die „stürmische See“ in mir adressiert. Wenn ich manchmal aus meinem trubeligen Alltag in den Hildesheimer Dom komme, dann bin ich alles andere als innerlich ruhig. Mich beschäftigen Fragen oder Sorgen, ich wälze im meinem Kopf und Herzen Probleme, manche Gedanken wollen mich gar nicht loslassen. Da kommt der Befehl Jesu gerade recht: „Schweig, sei still!“ Dies kann mir dabei helfen in eine innerliche Haltung hineinzukommen, die für die Einladung im Begleittext in der Mitte der Tafel (verweilen, beten, nachdenken) förderlich ist.

Was das Beispiel lehrt:

Es lohnt sich immer, sensibel darauf zu achten, wo und wie und wozu jemand biblische Texte zum Einsatz bringt. Sobald ich eine biblische Erzählung für sich betrachte und/oder präsentiere, reiße ich sie aus ihrem genuinen biblischen Kontext. Und ich stelle sie in neue Kontexte hinein. Das bleibt nicht folgenlos: Die Texte werden neu akzentuiert. Auch für meinen eigenen Umgang mit biblischen Texten muss ich darauf achten und die möglichen Folgen bedenken.

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