„Jesus ging in die Hocke und malte in den Sand.“ (nach Joh 8,6) Das klingt beschaulich, aber er sitzt nicht gemütlich mit den Freundinnen und Freunden am See. Um ihn herum steht eine große Traube von Menschen. Eben hat er noch heilige Schriften ausgelegt, offenbar so mitreißend, dass die Leute massenweise zugehört haben. Dann kommen die neunmalklugen Provokateure und stellen ihre Fragen. Spannung liegt in der Luft. Der Blutdruck steigt. Was wird Jesus sagen? Was tun? Wird er wie ein geschickter Religionspolitiker über vermintes theologisches Gelände springen oder wie ein Prophet ein Donnerwetter ablassen? Purer Stress muss das gewesen sein. Aber Jesus geht in die Knie und malt in den Sand. So steht es in der Geschichte des Johannesevangeliums im 8. Kapitel. Einer der rätselhaftesten Sätze im Neuen Testament. Was schreibt er auf den vergänglichen Untergrund? Flüchtige Worte oder Arabesken? Punkt, Punkt, Komma, Strich … ein leichter Wind ist über die Fläche gestoben. Der Text, die Muster längst vergangen. Geblieben ist diese Szene.
Jesus nimmt sich einen Freiraum, wo keiner ist. Was macht er wohl, während die Finger durch tausend zerriebene Steinchen streichen? Luft holen? Den Atem anhalten? Um Sätze ringen? Himmlischen Beistand suchen? Oder die Gegner düpieren, weil er eine Pause macht, wo keine im Skript steht? Jesus macht das ständig: sich rausziehen. Auf Hügel, in die Wüste, auf ein Boot. Er nimmt sich Freiräume, die nichts mit Lust auf Faulheit, Erschöpfung oder Lustlosigkeit zu tun haben, sondern mit Vergewisserung. So stelle ich mir das Jahr »Zeit für Freiräume« vor, das die Landeskirche Hannovers 2019 einübt.
Zeiten für Besinnung einführen, wo der Entscheidungsdruck vermeintlich keine Ruhe lässt. So viel zu tun, in der Krise der Volkskirche nach Auswegen suchen, die täglichen Anforderungen verwalten und das Unbekannte furchtlos in den Blick nehmen.
Da ist kein Platz für Freiräume, wenn ich mir keine nehme. Das Glockenläuten um zwölf. Kurz innehalten, beten, aus dem Fenster gucken. Momente für Dankbarkeit oder für die Kraft, die höher ist als alle Vernunft. Mehr Zeit, um mit anderen zu fragen: Warum tun wir, was wir tun? Geht das auch anders? Kann ich das auch lassen? Welche Tradition ist kostbar, und sind wir nur zu faul für Neues? Freiräume, das sind Ritzen des Heiligen Geistes. Viel Platz braucht er oft gar nicht. Aber im Vakuum versiegelter Termin-, Struktur- und Arbeitspläne hat er wenig Chancen. Einfach mal in die Knie gehen und in den Sand malen. Gerade dann, wenn der Druck der Ereignisse keine Zeit lässt für Besinnung. Neue Ideen, neue Zuversicht und heilige Fantasie kommen aus dem Zögern und der Ruhe, auch wenn es die Ruhe vor dem Sturm ist. Freiräume suchen, um die offenen Fragen auszuhalten, die Traurigkeit, aber auch das Glück über Gelungenes, für gute Überraschungen. Ein Fleckchen Sand findet sich immer.
Dr. Petra Bahr ist die Landessuperintendentin des Sprengels Hannover der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Nach einer journalistischen Ausbildung hat sie Theologie und Philosophie in Münster, Bochum und Jerusalem studiert. Von 2006 bis 2014 war sie Kulturbeauftragte des Rates der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) und Leiterin des Kulturbüros der EKD. Von 2014 bis 2016 leitete Sie die Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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