Die Oberammergauer Passionsspiele 2022 sind beendet. Sie waren erfolgreich. Corona trotzend kamen mehr als 400 000 Menschen nach Oberammergau. Das beeindruckende Bühnengeschehen aus Musik, Bild und biblischem Spiel führte wieder einmal Menschen aus aller Welt in das kleine bayrische Dorf. Alle zehn Jahre wird das Passionsspiel dort seit dem 17. Jahrhundert aufgrund eines alten Gelübdes von den Menschen des Ortes zur Aufführung gebracht.

Hat es sich gelohnt, so wurde ich nach unserer Studienfahrt nach Pullach und Oberammergau in diesem Sommer oft gefragt. Ich sage beherzt: Ja! Nicht weil es für mich ein „geistliches“ Erlebnis war, nicht weil mich die Menschenmengen beeindruckt haben, nicht weil es die alte katholische Dorftradition der Laiendarsteller:innen noch gibt. Da scheint mir doch manches aus der Zeit gefallen zu sein und bisweilen auch der kommerzielle Charakter den religiösen Anspruch zu überlagern.

Doch die dahinter liegenden Fragen sind mir bedenkenswert. Und sie berühren nicht nur Oberammergau, sondern den Glauben in unserer Zeit überhaupt. Wie lässt sich unsere christliche Tradition zeitgemäß und zukunftsstark weitergegeben? Wie werden Menschen Beteiligte dieser Tradition, bleiben nicht nur Zuschauer oder Konsumenten?

Wir waren während unseres Besuchstages in Oberammergau Gäste der dortigen evangelischen Kirchengemeinde. Im Gespräch mit dem Pfarrer, der sich unseren neugierigen, bisweilen auch kritischen Nachfragen geduldig stellte, tauchte ein schönes Wort auf: Werkstatt!

Mit diesem Wort charakterisierte unser Gastgeber alles Bemühen um das Spiel, seine inhaltlichen und musikalischen Herausforderungen. Das Passionsspiel also als Suchbewegung, als Erprobungsraum, als Frage, nicht als Antwort, ein Lernfeld für unseren Glauben. Wie würden wir wohl ein solches Spiel inszenieren?

Der Spielleiter und Regisseur Christian Stückl, der das Passionsspiel jetzt bereits zum dritten Mal inszenieren durfte, hat das Passionsspiel in den letzten Jahrzehnten vom – bis dahin zu Recht erhobenen – Vorwurf des Antijudaismus und Antisemitismus mehr und mehr befreien können. So zeichnet das jetzige Spiel beispielsweise ein sehr differenziertes Bild der Pharisäer, befreit die Rolle des Judas aus seinen traditionellen Klischees und interpretiert das nachösterlich geprägte Abendmahl Jesu in seinem historischen Kontext als offene jüdische Mahlfeier. Dass es an diesen Stellen Nachfragen gibt, mithin auch Verwunderung und Staunen, ist verständlich, rechtfertigt aber wohl kaum den, ja fast bösartigen Vorwurf der Verflachung der Tradition.

Das Passionsspiel in Oberammergau bleibt ein vielseitiger Lernprozess.  Dieser wird umso deutlicher, je mehr man beispielsweise die Textbücher der Vergangenheit mit dem Ringen um angemessene Texte und Regieanweisungen heute vergleicht. Verwechselt man das Passionsspiel nicht mit der Bibel selbst, sondern sieht darin den Versuch einer Interpretation für die Gegenwart, so wird man den Verantwortlichen des heutigen Passionsspiels mit großem Respekt begegnen.

Die Auszeichnung von Christian Stückl im vergangenen Jahr mit der Buber-Rosenzweig-Medaille hat dies beeindruckend unterstrichen. Gerade wer die Entwicklung des Passionsspiels in Oberammergau verfolgt, darf schon heute gespannt sein, wie sich die Spiele 2030 darstellen werden.

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